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Antisemitismus vs. Israel-Kritik – ja aber


Prof. Dr. med. Rolf Zander
Mail: cr-zander@widersprueche.eu
Web: www.widersprueche.eu

Bundespräsidialamt
Spreeweg 1
10557 Berlin

per E-Mail: bundespraesidialamt@bpra.bund.de

25. Oktober 2023

Antisemitismus vs. Israel-Kritik – ja aber

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

nachdem Sie 2017 den „neuen Antisemitismus“ [1] verurteilt hatten, habe ich Ihnen am gleichen Tage zum Thema „Antisemitismus vs. Israel-Kritik“ eine Nachricht geschickt.

Meine Zitate wollten Sie 2017 nicht kommentieren:

  • „Die Ausschreitungen sind nicht nur inakzeptabel, sie sind unerträglich. Es darf in Deutschland kein Platz sein für alten Antisemitismus und auch nicht für neuen.“
  • Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, der Israel „Apartheidpolitik“ vorwarf, ist so wenig ein Antisemit wie der Publizist Jakob Augstein….
  • Dass Netanjahu ausgerechnet in dem Bewohner des Weißen Hauses seinen besten Verbündeten zu haben glaubt, der vor einem halben Jahr unter amerikanischen Nazis noch „sehr feine Leute“ erblickte.

Danach habe ich 2019 – wieder ohne Erfolg – einen Offenen Brief an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Herrn Dr. Josef Schuster, mit meinen Argumenten geschickt.

Nach 6 Jahren könnte ich Sie wieder zitieren:

Angesichts antisemitischer Ausschreitungen der vergangenen Tage nannte es Steinmeier „unerträglich, dass Jüdinnen und Juden heute wieder Angst haben – ausgerechnet in diesem Land“. Der Schutz des jüdischen Lebens im Land sei Staatsaufgabe, „aber er ist auch Bürgerpflicht“ … Kundgebung gegen Antisemitismus und für Solidarität mit Israel [2].

Ja

Ja, gemäß unserer Staatsräson gilt nach dem schrecklichen, unglaublichen Terror-Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 unsere – uneingeschränkte – Solidarität mit Israel.

Allerdings mischt sich darunter seit wenigen Tagen ein

Ja, aber …

… das es auch zu berücksichtigen gilt.

Bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse kam es zum Eklat, als der weltberühmte slowenische Philosoph Slavoj Žižek auf den „schrecklichen Krieg in Gaza“ zu sprechen kam: „Ich verurteile uneingeschränkt die Attacke der Hamas auf die Israelis, ohne irgendein Wenn und Aber.“ „Aber ich habe etwas Merkwürdiges festgestellt: Sobald man anfängt, den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man verdächtigt, den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Ist uns klar, wie merkwürdig dieses Analyseverbot ist? In welche Gesellschaft gehört ein solches Verbot?“

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, eröffnet danach die Messe mit dem Satz: „Mit einer Ablehnung des Wortes ‚aber‘ eröffne ich die 75. Frankfurter Buchmesse.“ [3].

Damit ist das Problem Ja, aber nicht vom Tisch, denn

  • Israels Botschafter Ron Prosor kündigte am Brandenburger Tor an: „Wir müssen jetzt im Gazastreifen die gesamte Infrastruktur des Terrors beseitigen – und wenn wir das tun, möchte ich wirklich kein ,Ja, aber’ mehr hören.“ [2]
  • Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin, über die Situation von Juden: Eine häufige Reaktion ist ein „Ja, aber“. Nach dem Motto: Es sei ja schlimm, was da passiert ist, aber Israel sei auch selbst schuld [4].
  • Kommentar von Jens Kleindienst, Allgemeine Zeitung Mainz: Kein „Ja, aber“ zur Demo für Israel. Müssen wir der israelischen Regierung und Israels Armee wirklich unterstellen, ihnen sei das Völkerrecht egal? Nicht selten gibt es eine Gleichsetzung des Hamas-Terrors mit den Militäraktionen der israelischen Armee [4].
  • Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden: Was ich derzeit nicht mehr hören kann, ist das Wort „aber“: „Ja, aber Netanjahu …“, „Ja, aber die Besatzung …“  [5].
  • Weitere Aber finden sich im Anhang zur einseitigen Berichterstattung vom 25.10.2023 zur Sitzung des UN-Sicherheitsrates vom 24.10.2023.

Damit zurück zum Gaza-Israel-Konflikt.

  • Israel kontrolliert mit seiner Armee den gesamten Zugang zum Gazastreifen:
    Zur See: Ein Hochseehafen bzw. Aufnahme entsprechender Schiffsverbindungen ist ohne israelische Zustimmung nicht möglich.
    Über die Luft: Der Gaza International Airport (GIA) wurde 1998 in Anwesenheit von US-Präsident Bill Clinton offiziell eröffnet. Gebaut wurde er mit Geldern aus Deutschland, Spanien, Saudi-Arabien, Ägypten und Japan. Er wurde von Israel im Jahre 2001 durch israelische Streitkräfte in Folge der Zweiten Intifada geschlossen und zerstört.
    Zum Gazastreifen gibt es drei Grenzübergänge: Erez im Norden für den Personenverkehr, Kerem Schalom im Süden für den Waren-Umschlag und Rafah an der Südgrenze der einzige Grenzübergang zu Ägypten.
  • Die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft hat die Angriffe der Hamas auf Israel und zugleich die Gegenangriffe Israels auf den Gazastreifen „auf das Schärfste“ verurteilt. Das Mitgefühl gelte „den Angehörigen der vielen Toten und den Verletzten auf beiden Seiten“, sagte der Präsident, Nazih Musharbash. Die Gesellschaft begrüße die Stellungnahme des UN-Generalsekretariats, die nur in der Gründung eines eigenen palästinensischen Staates neben Israel eine effektive Beruhigung der Lage sieht.
    Die Weltgemeinschaft habe Israel stets unterstützt und die völkerrechtswidrige Besetzung und Annektierung palästinensischer Gebiete geduldet, sagte der seit 1965 in Deutschland lebende Jordanier [6].
  • Zwei Tage nach dem verheerenden Hamas-Angriff aus dem Gazastreifen hat Israel die komplette Abriegelung des Küstengebiets verkündet, in dem 2,2 Millionen Menschen leben. «Kein Strom, kein Essen, kein Wasser, kein Treibstoff» [7].
  • Scholz hat auf den notwendigen Schutz der Zivilisten im Gazastreifen hingewiesen, die von Strom und Wasser abgeschnitten sind und vom israelischen Militär aufgefordert wurden, den Norden dieses Gebiets binnen kürzester Zeit zu verlassen. Deutschland gehört zu den überzeugtesten Verfechtern des humanitären Völkerrechts und sollte darauf stets hinweisen. Dies stellt das Selbstverteidigungsrecht Israels nicht infrage.
    Allerdings hat Scholz auch erlebt, wo sein Einfluss endet. Israels Premier Benjamin Netanjahu wies die Verantwortung für die Zivilisten in Gaza zurück, dies sei die Sache der Hamas als Urheberin der Terrorwelle [3].
  • Hunderte von Beamten und Mitarbeitern der EU werfen Ursula von der Leyen in einem offenen Brief vor, sie habe mit ihrer «bedingungslosen» Unterstützung Israels «freie Hand für die Beschleunigung und Legitimierung eines Kriegsverbrechens im Gazastreifen»gegeben. Sie habe in Ihrer Rede mit keinem Wort die Zwei-Staaten-Lösung erwähnt, die in Brüssel als einzige realistische Option für einen dauerhaften Frieden in Nahost gilt [8].
  • Einem israelischen Militärsprecher zufolge sollen die intensiven Luftangriffe auf Gaza, denen nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums inzwischen fast 4500 Menschen zum Opfer gefallen sind, „die besten Bedingungen für die nächste Phase des Kriegs“ schaffen. In Phase drei will Israel dem Verteidigungsminister zufolge eine „neue Sicherheits-Realität“ rund um Gaza schaffen und Israels Verantwortung für die im Küstenstreifen lebenden 2,2 Millionen Palästinenser komplett abstreifen. Dann kämen die im Westjordanland regierende Palästinensische Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas oder auch die Vereinten Nationen für eine Übergangsphase infrage. Nach 37 Lastwagen mit Hilfslieferungen für den Gazastreifen warnen die Vereinten Nationen vor einer Katastrophe und schätzen, dass mindestens 100 Lastwagen-Ladungen pro Tag nötig sind, um den Mindestbedarf zu decken. UN-Generalsekretär António Guterres fordert – wohl ohne Aussicht auf Erfolg – einen „humanitären Waffenstillstand“, um Hilfslieferungen in größerem Stil zu ermöglichen [4].
  • Bei dem Treffen auf Einladung Ägyptens gab es scharfe Kritik an Israels Angriffen – wie auch am Terror im Auftrag der Hamas. Jordaniens König Abdullah II. nannte das „unerbittliche Bombardement in Gaza“ grausam und skrupellos. Es sei eine kollektive Strafe für eine belagerte und hilflose Bevölkerung. „Es ist ein Kriegsverbrechen“, so Abdullah II. [4].
  • Der US-Präsident warnte Israel eindringlich vor einer Besetzung des Gazastreifens und hält weiterhin die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung aufrecht. Das Weiße Haus teilte mit, Präsident Biden und Premier Netanjahu hätten vereinbart, dass die wichtige humanitäre Hilfe fortgesetzt wird [5].
  • Frankreichs Präsident Macron spricht sich eindeutig für eine Zweistaatenlösung aus: Die Palästinenser hätten ein legitimes Recht auf ein „Territorium und einen Staat in Frieden und in Sicherheit neben Israel“ [9].

Damit zurück zum Antisemitismus in Deutschland.

Wenn Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident,
uns allen zur Frage Differenzierung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik eine Orientierung geben könnten, wäre das äußerst hilfreich. Streng getrennt werden sollte der Antisemitismus in Deutschland von einer berechtigten Kritik an Israel. Dann könnten wir getrost den aktuellen Vorschlag des CDU-Vorsitzenden vergessen, nämlich, dass bei Einbürgerung künftig eine verbindliche Zusicherung dazugehört, sich zur Sicherheit Israels zu bekennen, die schließlich Staatsräson sei [5].

Ausgehend von den Zitaten aus dem Buch Wi(e)dersprüche (2023) zum Thema Antisemitismus in Deutschland ist es notwenig, dass wir – Alle – den unerträglichen Antisemitismus in Deutschland ausrotten. Dazu wäre ein Appell Ihrerseits an alle Bürger und Institutionen in Deutschland notwendig, exemplarisch: Kirchen, politische Parteien, Zeitungen, Staatsanwaltschaften, Soldaten der Bundewehr, Schulen, Gerichtsbarkeit, Journalisten, Polizei, Supermarktketten, Werbeagenturen, Gemeinderäte, Jugendliche, Verlage, Kommunalverwaltungen, Kirchenleitungen, Repräsentanten der Demokratie, Internet, Fußball …

Sollen Sie diesen Brief kommentieren wollen, würden sich die Leser sicher sehr freuen, diesen hier an gleicher Stelle lesen zu dürfen.

In diesem Sinne nach 6 Jahren erneut mit Dank für Ihre Geduld

und besten Grüßen nach Berlin

R. Zander (81, parteilos)

P.S. Die im Text Erwähnten wurden per E-Mail einkopiert.

Literatur:
1. SZ 13.12.2017
2. SZ 23.10.2023
3. SZ 18.10.2023
4. AZ Mainz 23.10.2023
5. SZ 24.10.2023
6. AZ Mainz 10.10.2023
7. NZZ 10.10.2023
8. NZZ 24.10.2023
9. SZ 25.10.2023

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