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BVerfG negiert absolute Mehrheit


Prof. Dr. med. Rolf Zander
Mail: cr-zander@widersprueche.eu
Web: www.widersprueche.eu

An die
Bundestagsabgeordneten (per E-Mail)

  • Kai-Uwe Ziegler (AfD, Wahlkreis Anhalt)
    kay-uwe.ziegler@bundestag.de
  • Lars Rohwer (CDU, Wahlkreis Dresden II – Bautzen II)
    lars.rohwer.ma02@bundestag.de
  • Michael Müller (SPD, Wahlkreis Berlin, Charlottenburg-Wilmersdorf)
    michael.mueller@bundestag.de

Kopie: Bundespräsident, Bundestagspräsidentin, Bundeskanzler, Bundesverfassungsgericht, Parteivorsitzende, Presseorgane etc.

7. August 2024

BVerfG negiert absolute Mehrheit

Sehr geehrte Abgeordnete von AfD, CDU und SPD,

als 2021 direkt gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages fungieren Sie als „Abgeordnete des ganzen Volkes“ [GG Art. 38 (1)]. Dies wird vom Unterzeichner mit folgender Begründung (s. Anhang) bestritten.

  • Sie, Herr Ziegler, belegen mit nur 15,7 % Zustimmung Ihrer Wahlberechtigten den 3. Platz beim „Negativ-Rekord“ in der Gruppe der 17 Direktkandidaten der AfD, die im Mittel von nur 20,3 % ihrer Wahlberechtigten gewählt wurden.
  • Sie, Herr Rohwer, belegen mir nur 15,0 % Zustimmung Ihrer Wahlberechtigten in einer Gruppe von insgesamt 18 Abgeordneten mit weniger als 20 % Zustimmung der Wahlberechtigten den 2. Platz beim „Negativ-Rekord“.
  • Sie, Herr Müller, belegen den 1. Platz beim „Negativ-Rekord“, da Sie bei der Wahlwiederholung Berlin im Februar 2024 von nur 13,0 % Ihrer Wahlberechtigten gewählt wurden, Gratulation!

Sie alle haben damit den Mittelwert bei der Bundestagswahl vom 26.09.2021 noch deutlich unterschritten: Das mittlere Wahlergebnis bei allen 299 Direktkandidaten betrug nur 33,4 %, sodass bei einer Wahlbeteiligung von 76,6 % aller Wahlberechtigten eine mittlere Zustimmung der Wahlberechtigten von nur 25,6 % vorlag. Damit haben drei Viertel (74,4 %) der Wahlberechtigten ihre Direktkandidaten nicht gewählt.

 Was hat das Bundesverfassungsgericht zum Wahlgesetz am 30. Juli 2024 verschwiegen?

Das Bundesverfassungsgericht weigert sich, das Bundewahlgesetz (BWG) in der jetzigen Form für verfassungswidrig zu erklären, da es bei der Wahl der 299 Direktkandidaten keine Chancengleichheit der unterlegenen Kandidaten mit einer Stichwahl und dem Erfordernis einer absoluten Mehrheit enthält – wie gerade in Frankreich geschehen.

Der Unterzeichner (82, parteilos) hofft darauf, dass bis zur Bundestagswahl Ende September 2025 noch eine Änderung des Bundeswahlgesetzes erfolgen wird, damit die 299 Direktkandidaten nicht  – potentiellmit weniger als 10 % der Wahlberechtigten gewählt werden.

Mit den besten Grüßen

R. Zander
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Anmerkungen

Absolute Mehrheit – Vorgeschichte

  • Der Unterzeichner (juristischer Laie) hat seit Januar 2021 – also schon vor der Bundestagswahl vom September 2021 – versucht, die Einführung einer absoluten Mehrheit (50 %) bei der Wahl der Direktkandidaten des Bundestages zu fordern.
  • Die negative Entscheidung des Bundestages zur Petition erfolgte nach 9 Monaten,
  • die des Bundestages zur Wahlanfechtung vom Oktober 2012 erfolgte nach 8 Monaten,
  • die des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungsbeschwerde vom Juli 2022, vom BVerfG als Wahlprüfungsbeschwerde interpretiert, erfolgte im Mai 2024, also nach 22 Monaten und
  • die einer erneuten Verfassungsbeschwerde vom Mai 2024, das Bundewahlgesetz (BWG) in der jetzigen Form für verfassungswidrig zu erklären, erfolgte umgehend wegen Bedenken gegen deren Zulässigkeit.

Absolute Mehrheit – Prognose

  • Wenn die Zahl der kandidierenden Parteien zunimmt (bei der Europawahl schon 34 Parteien), und / oder die lokale Wahlbeteiligung im Wahlkreis abnimmt, wird es möglich, mit einer minimalen Zustimmung der Wahlberechtigten – vielleicht sogar unter 10 % – als Direktkandidat in den Bundestag einzuziehen.

Absolute Mehrheit – Vergleich Inland

  • Der Bundespräsident wird nach GG Art. 54 (6) mit absoluter Mehrheit gewählt, erst im 3. Wahlgang mit einer relativen Mehrheit.
  • Die Wahl des Ministerpräsidenten in Sachsen und Thüringen erfordert die absolute Mehrheit, die relative Mehrheit reicht erst im 3. Wahlgang.
  • In Hessen und Rheinland-Pfalz wird der Ministerpräsident grundsätzlich mit absoluter Mehrheit gewählt.
  • In NRW bleibt seit 2019 – bei Kommunalwahlen – die absolute Mehrheit erhalten. Der Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen hat 2019 entschieden, dass die Abschaffung der Stichwahl bei Kommunalwahlen verfassungswidrig ist. Die Bürger müssen künftig wieder ein zweites Mal ins Wahllokal, wenn es im ersten keine absolute Mehrheit für den Bürgermeister oder Landrat gab.
  • Wie in anderen Bundesländern auch werden Bürgermeister etc. in Rheinland-Pfalz nur mit absoluter Mehrheit gewählt, wird diese im ersten Wahlgang nicht erreicht, erfolgt eine Stichwahl für die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen.

Absolute Mehrheit – Landtagswahlen

Die gleiche hier geschilderte Problematik der „Absoluten Mehrheit“ findet ihren Nieder­schlag in den letzten Landtagswahlen, zum Beispiel:

  • Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt: Der Direkt-Kandidat Lothar Waehler (AfD) wurde im Wahlkreis Zeitz mit nur 13,6 % Zustimmung seiner Wahlberechtigten gewählt.
  • Landtagswahl 2021 Rheinland-Pfalz:
    Nr. 109 Koblenz mit 34,7 % für die SPD aber nur noch 22,9 % der Wahlberechtigen.
    Nr. 338 Speyer mit 30,5 % für die CDU aber nur noch 24,0 % der Wahlberechtigen.
    Nr. 219 Birkenfeld mit 38,7 % aber nur noch 25,8 % der Wahlberechtigten.
    Nr. 443 Kaiserslautern I mit 41,1 %, aber 24,1 % der Wahlberechtigten.
    Nr. 335 Ludwigshafen I mit 40,0 %, aber nur 23,4 % der Wahlberechtigten.
  • Landtagswahl in NRW 2022: Herr Jörg (SPD) wird in Hagen I mit nur 16 % Zustimmung der Wahlberechtigten gewählt.

Absolute Mehrheit - Stichwahl

  • Dezember 2023 OB-Wahl in Pirna: Der AfD-Kandidat (parteilos) gewinnt im zweiten Wahlgang mit 38,5 % gegen zwei Kontrahenten von der CDU und den Freien Wählern.
  • Juni 2024: Bei den Stichwahlen um Landratsposten in Thüringen ist die AfD leer ausgegangen. In keinem der 9 Landkreise, in denen AfD-Kandidaten den zweiten Wahlgang erreicht hatten, reichte es für einen Sieg.

Absolute Mehrheit – Vergleich europäisches Ausland

Eine Gemeinsamkeit von Frankreich und Großbritannien ist das Mehrheitswahlrecht. Bei einem Mehrheitswahlrecht ist ein Land in Wahlkreise eingeteilt – und ins Parlament ziehen allein diejenigen ein, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen haben.

  • In Großbritannien hat Labour 2024 viele der 650 Unterhaus-Sitze knapp gewonnen, allerdings in Verbindung mit einer deutlich gesunkenen Wahlbeteiligung.
  • Frankreich hat eine besondere Spezialität, das zweistufige Mehrheitswahlsystem, d.h. die Wahl in zwei Wahlgängen. Die Abgeordneten werden in insgesamt 577 Wahlkreisen direkt gewählt.
    • Um ins Parlament einzuziehen, müssen sie im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit plus die Stimmen von mindestens 25 % aller Wahlberechtigten gewinnen. Aktuell in 2024 gelang das aber nur 76 von 577 möglichen Abgeordneten. Bei der folgenden Stichwahl in den Wahlkreisen dürfen dann nur noch Abgeordnete antreten, die mindestens 12,5 % der Stimmen aller Wahlberechtigten für sich gewinnen konnten. Aufgrund der hohen Wahl­beteiligung wurden in vielen Wahlkreisen Dreierduelle möglich. 306 dieser sogenannten „Triangulaires“ waren 2024 rein rechnerisch möglich, sofern vor der Stichwahl kein Kandidat zurückzieht. 2022 gab es diese Konstellation nur in sieben Wahlkreisen.
    • Um einen Sieg des rechten Rassemblement National (RN) zu verhindern, wurde geplant, in Wahlkreisen, in denen die beiden Parteien jeweils auf dem dritten Platz gelandet sind, zugunsten der Kandidaten zurückzutreten, die in der Lage sein könnten, den RN zu schlagen.
    • Das bedeutet: Die ohnehin spärlichen Elemente einer Persönlichkeitswahl im Wahlrecht werden noch spärlicher.
    • Die Linke hat nach dem ersten Wahlgang überall dort, wo drei Kandidaten die Stichwahl erreichten, ihre Drittplatzierten aus dem Rennen gezogen, damit andere gemäßigte Kandidaten – also Macronisten und Republikaner –, die besser platziert waren, ihr Duell jeweils gegen die extremen Rechten gewinnen können. Auch die Macronisten selbst haben die meisten ihrer Drittplatzierten für andere aufgegeben. Statt 306 Dreiecks­wahlen, die den RN begünstigt hätten, gibt es so immerhin nur noch 89. In Frankreich nennt man das „Front républicain“, republikanische Front, eine Brandmauer gegen die Rechten.
  • Deutschland im Vergleich dazu, nach dem Urteil des BVerG Ende Juli 2024:
    • ​​​​​​Fortan soll allein die Zweitstimme – also die Parteistimme – für die Zahl der Mandate maßgeblich sein. Die Erststimme erhöht zwar nach wie vor die Chancen des Wahlkreis­siegers, in den Bundestag einzuziehen, der Sieg gibt ihm aber keine Garantie. Wenn eine Partei mehr Wahlkreissieger vorzuweisen hat, als ihr nach dem Zweitstimmen­ergebnis an Mandaten zusteht, dann ziehen die Sieger mit den schlechtesten Ergebnissen nicht ins Parlament ein, sog. Zweitstimmendeckung. Das Ergebnis ist, dass in Deutschland fortan nach einem System der Verhältniswahl abgestimmt wird, und zwar fast in Reinform. Das „personale Element“ – der Wahlkreiskandidat – hat nur noch eine kleine Nebenrolle.
    • Das BVerfG spricht von einem „weiten Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers, der es ihm erlaube, „die Verhältniswahl mit Elementen der Personalwahl“ zu verbinden. Früher reichte ein Sieg im Wahlkreis, in Zukunft muss das Mandat auch von den Zweitstimmen der Partei gedeckt sein – nur dann löst der Kandidat das Ticket nach Berlin.

|   Deutschland
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