Prof. Dr. med. Rolf Zander
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11. Juni 2025
Antisemitismus versus Israel-Kritik
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
um das Ergebnis dieses Offenen Briefes vorwegzunehmen: Eine Variation des legendären Satzes von Michail Gorbatschow „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte“ könnte man Ihnen jetzt in 2025 vorhalten.
Wer zu spät kommt
- Auf den Vorschlag des Unterzeichners von 2017 wollten Sie nicht reagieren: Wenn Sie Ihren Mitbürgern zur Frage „Differenzierung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik“, eine Klarstellung übermitteln könnten, wäre das äußerst hilfreich.
- Danach der Versuch des Unterzeichners – wieder ohne Erfolg – im Offenen Brief 2019 an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Herrn Dr. Josef Schuster, Ihre Verurteilungen eines „neuen Antisemitismus“ zu wiederholen: „Die Ausschreitungen sind nicht nur inakzeptabel, sie sind unerträglich. Es darf in Deutschland kein Platz sein für alten Antisemitismus und auch nicht für neuen.“ [1]
An gleicher Stelle: Der Zentralrat der Juden in Deutschland sollte – unbedingt – differenzieren zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel, weil sonst der wachsende Antisemitismus in Deutschland, ausgehend von der israelischen Politik, den tatsächlichen Antisemitismus verharmlost. [2] Im Offenen Brief 2023 – wieder ohne Erfolg – wurden Sie gebeten, uns allen zur Frage Differenzierung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik eine Orientierung zu geben, „Streng getrennt werden sollte der Antisemitismus in Deutschland von einer berechtigten Kritik an Israel.“
Und dann die Bitte des Unterzeichners an Sie:
Es ist notwendig, dass wir – Alle – den unerträglichen Antisemitismus in Deutschland eliminieren. Dazu wäre ein Appell Ihrerseits an alle Bürger und Institutionen in Deutschland notwendig, exemplarisch: Kirchen, politische Parteien, Zeitungen, Staatsanwaltschaften, Soldaten der Bundewehr, Schulen, Gerichtsbarkeit, Journalisten, Polizei, Supermarktketten, Werbeagenturen, Gemeinderäte, Jugendliche, Verlage, Kommunalverwaltungen, Kirchenleitungen, Repräsentanten der Demokratie, Internet, Fußball etc.
In einer Zwischenphase wurde 2022 vor dem Hintergrund eines stetig zunehmenden – unerträglichen – Antisemitismus in Deutschland intensiv über die Nomenklatur gestritten.
- Herr Schuster verwendete den Begriff „Israelbezogenen Antisemitismus“ [4], auch Herr Klein (Antisemitismus-Beauftragter) im Interview [5] und dann folgt die „antisemitische Israel-Kritik“. [6]
Auf den Antisemitismus in Deutschland folgt die Israel-Kritik 2025 nach 8 Jahren.
- Vor 20 Jahren hat der damalige deutsche Botschafter in Israel, der Sozialdemokrat Rudolf Dreßler, jenen Satz formuliert, der später von der christdemokratischen Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederholt und im Bewusstsein vieler Menschen verankert worden ist. Die gesicherte Existenz Israels liege im nationalen Interesse Deutschlands, sei somit Teil unserer Staatsräson. Aus den Verbrechen Nazi-Deutschlands, als Lehre aus der Shoah, resultiert eine besondere Verantwortung – auch für die Palästinenser –, erklärte der Erhard-Eppler-Kreis der SPD. [7]
- Mit den Worten von Felix Klein, Antisemitismusbeauftragtet des Bundes: „Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun.“ [8]
- Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nennt israelisches Vorgehen im Gazastreifen eine „Schande: Was die Regierung von Benjamin Netanyahu aktuell macht, ist inakzeptabel“. [9]
- Israel verliert in Europa Unterstützer
In der EU distanzieren sich immer mehr Staaten vom Vorgehen der Regierung von Benjamin Netanjahu im Gazastreifen. Deutschland gehört innerhalb der Europäischen Union zu den treuesten Unterstützern Israels, sieht sich aufgrund der wachsenden Kritik am Vorgehen Israels und am Leiden der Zivilbevölkerung zunehmend isoliert. Das setzt auch die Bundesregierung unter Zugzwang. 63 % (17 von 27) der EU-Außenministerinnen und Außenminister haben dafür gestimmt, das Assoziierungsabkommen von 2000 mit Israel … notfalls zu kündigen. Voraussetzung für den Vertrag sei die Respektierung der Menschenrechte. Deutschland lehnte dies ab. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, nannte die Lage für die Menschen im Gazastreifen „katastrophal“, die Mitgliedsländer halten die Lage für „untragbar“, sagte Kallas. Staatspräsident Emmanuel Macron nannte das Vorgehen Israels im Gazastreifen – gemeinsam mit dem britischen Premierminister Keir Starmer und dem kanadischen Regierungschef Mark Carney „völlig unverhältnismäßig“. Benjamin Netanjahu wehrte sich umgehend: „Dies ist ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei. Israel wird sich mit gerechten Mitteln verteidigen, bis der totale Sieg erreicht ist.“ [10] - In Belgien wird ein offener Brief von rund zwei Dutzend jüdischen Intellektuellen veröffentlicht: Sie verwahren sich unter dem Titel „Nicht in unserem Namen“ dagegen, Kritik an Israels Regierung als Antisemitismus zu werten. [11]
Der Zentralratspräsident Josef Schuster sagte, „das Risiko ziviler Opfer muss bei diesem Kampf gegen den Terror so gering wie möglich gehalten werden“. Klar sei, „der Kampf gegen die Hamas ist für die Sicherheit Israels unabdinglich.“
Zur Erinnerung (s.o.): Wenn der Talmudspruch „Alle Juden sind füreinander verantwortlich“ auch für den Zentralrat der Juden in Deutschland gilt, dann war dies höchste Zeit. [12]
Wie geht man mit einem internationalen Haftbefehl des ICC wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ um?
- Nach seinem Wahlsieg am 23.02.2025 fand CDU-Chef Friedrich Merz bei all dem Trubel in Berlin dennoch die Zeit, um sich mal kurz über ein paar Grundsätze deutscher Außenpolitik hinwegzusetzen, über völkerrechtliche Verträge und Deutschlands Bekenntnis zum regelbasierten internationalen System. Wenige Stunden nach der Wahl der Union zur stärksten Kraft in Deutschland sagt Friedrich Merz in einem Telefonat mit Benjamin Netanjahu, dass „wir Mittel und Wege finden werden, dass er Deutschland besuchen kann und auch wieder verlassen kann, ohne dass er in Deutschland festgenommen worden ist.“ Allerdings ist der Haftbefehl nicht abwegig, den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) im November gegen Netanjahu, seinen früheren Verteidigungsminister Joav Gallant und den mittlerweile getöteten Militärchef der Hamas erlassen hat. In seiner Mitteilung nannte der ICC „Aushungern als Methode der Kriegsführung“ sowie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, also „Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen“. Die Bundesrepublik hat den Weltstrafgerichtshof anerkannt und ist seit seiner Gründung 2002 einer von 124 Unterzeichnerstaaten – sie muss seine Entscheidungen anerkennen.
Auch bei der Einladung von Russlands Staatschefs Wladimir Putin zum Brics-Gipfel 2023 durch Südafrika pochte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) wegen des Haftbefehls für ihn auf Putins Festnahme. „Das Völkerrecht ist an dieser Stelle klar“, sagte sie. Putin sagte seine Teilnahme ab und schickte seinen Außenminister nach Südafrika. [13] - Eine umgehende Pressemitteilung zur Einladung an Netanjahu mit einem dringenden Appell an Herrn Lars Klingbeil, Vorsitzender der SPD, bleibt ohne Reaktion. [14]
- Es dauert bis Mitte Mai 2025, bis Merz’ Regierungssprecher mitteilt, es gebe derzeit keine Einladung an Netanjahu für einen Deutschlandbesuch. Gegen Netanjahu liegt ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vor – wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen.
Beim Besuch von Isaac Herzog, Israels Präsident, im Schloss Bellevue aus Anlass der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel vor 60 Jahren würdigt Frank-Walter Steinmeier die Beziehungen gebührend. Aber dann sagt Steinmeier eben auch den Satz, der von diesem Auftritt vor allem bleiben wird: Die israelische Blockade von Hilfsgütern in den Gazastreifen müsse aufgehoben werden, „nicht irgendwann, sondern jetzt“. [15] - Ein Handschlag mit Tücken – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim distanzierten Händedruck mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. [16]
- Beim Israelbesuch wird Steinmeier gefragt, was er von der Forderung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International halte, auf das Treffen mit Netanjahu zu verzichten. „Ich finde, dass die Forderung sehr einfach ist“, antwortet der Bundespräsident. [17]
- Händedruck mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu.
Außenminister Wadephuls Botschaft in Israel: Er stehe an der Seite Israels, aber das heiße nicht, dass Kritik verboten wäre. Das ist Wadephuls Interpretation der Staatsräson. "Unerträglich" nennt Wadephul aber auch die humanitäre Lage in Gaza. Damit die Palästinenser in Gaza eine Zukunft haben, dürfe niemand gezwungen werden, das Land zu verlassen. [18]
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
an dieser Stelle im Jahr 2025 „bestraft Sie die Geschichte“, weil Sie – nach 8 Jahren – zu spät kommen: Sie hätten 2017 Ihren Mitbürgern zu der Frage „Differenzierung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik“ eine Klarstellung übermitteln können.
Auf der ersten Seite einer aktuellen Süddeutschen Zeitung (SZ) liefert Ihnen die Presse die Konsequenzen: Extremer Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland und auf der selben Seite: der Direktor des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) ermahnt Berlin, Deutschland müsse angesichts der Lage in Gaza erkennen, „dass Untätigkeit Konsequenzen hat“. [19]
In diesem Sinne nach 8 Jahren erneut mit Dank für Ihre Geduld
und besten Grüßen nach Berlin
R. Zander (83, parteilos)
Cc: Die im Text Erwähnten (Felix Klein, Josef Schuster, Friedrich Merz, Annalena Baerbock, Lars Klingbeil, Johann Wadephul)
Bcc: Diverse Interessierte, Presse-Organe
Quellen:
[1] SZ 13.12.2017, [2] SZ 14.11.2019, [3] Offener Brief 2019, [4] SZ 02.02.2022, [5] NZZ 05.03.2022, [6] SZ 29.06.2022, [7] SZ 24.05.2025, [8] AZ Mainz 02.05.2025, [9] Spiegel 14.05.2025, [10] SZ 22.05.2025, [11] SZ 15.05.2025, [12] Jüdische Allgemeine 14.05.2025, [13] SZ 26.02.2025, [14] 25.02.2025 Presseinfo, [15] SZ 13.05.2025, [16] Stern 17.05.2025, [17] SZ 15.05.2025, [18] Tagesschau 12.05.2025, [19] SZ 05.06.2025