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Wahlrechtsreform – Ihr mehrfacher Sinneswandel


Prof. Dr. med. Rolf Zander
Mail: cr-zander@widersprueche.eu
Web: www.widersprueche.eu

Präsident des Deutschen Bundestages
Herrn Dr. Wolfgang Schäuble
11011 Berlin

26. März 2021 / keine Antwort erhalten

Wahlrechtsreform – Ihr mehrfacher Sinneswandel

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,

auf den Offenen Brief vom 18. Oktober 2019, publiziert am 05.11.2019, haben Sie ebenso wenig reagiert wie auf die E-Mail an Sie vom 29.01.2020 mit Kopie an alle im Bundestag vertretenen Parteien.

Das Problem „Verkleinerung des Bundestages“ besteht weiterhin und beschäftigt nun bald das Bundesverfassungsgericht, nachdem FDP, Grüne und Linke am 01.02.2021 Klage gegen die Wahlrechtsreform vom Oktober 2020 eingereicht haben und vom Bundesverfassungsgericht verlangen, dass es Teile dieses Wahlrechts per einstweiliger Anordnung außer Kraft setzt.

Gestatten Sie bitte, dass ich Sie mit folgenden Fakten konfrontiere (chronologisch):

  • Petitionen an den Deutschen Bundestag:
    Direktmandat nur bei Erreichen der absoluten Mehrheit vergeben (11.03.2020).
    Änderung des BWG in § 43 Nachwahl für die Wahl zum Bundestag (06.04.2020).
    Wahlrecht verbessern – Stichentscheid bei Direktwahl (29.06.2020).
     
  • Die große Koalition hat am 03.07.2020 verhindert, dass im Bundestag über einen Gesetzentwurf der Opposition zum Wahlrecht abgestimmt werden konnte. Mit ihrem gemeinsamen Gesetzentwurf wollten FDP, Grüne und Linke das Parlament verkleinern (SZ 04.07.2020).
     
  • Gregor Mayntz (Vorsitzender der Bundespressekonferenz von 2011 bis 2020):
    Kombination von deutschem und französischem Wahlsystem: 299 Abgeordnete werden nach dem Anteil an Zweitstimmen von den Listen der Parteien gewählt. Die anderen 299 mit der Erststimme. Aber sie brauchen in ein bis zwei Wahlgängen nicht die relative,sondern die absolute Mehrheit in ihrer Region. Dann wäre die Repräsentation perfekt, denn für den zweiten Wahlgang könnten sich die mit ihren Kandidaten unterlegenen Parteien zusammenfinden, und so hätte nicht nur die Union die größten Chancen auf Direktmandate, die kleineren könnten auch um den Erfolg in Stichwahlen kämpfen. Das Ergebnis wären gleiche Chancen für jeden bei beiden Stimmen. Und ein Parlament mit 598 Abgeordneten und keinem Sitz mehr (AZ Mainz 06.10.2020).
  • Wahlrechtsreform vom Oktober 2020:
    Der Entwurf der Koalition wurde von fast allen Sachverständigen bei der Anhörung zerpflückt (SZ 08.10.2020).
    Bundestagspräsident Schäuble hatte sich bei der Abstimmung enthalten und gab eine persönliche Erklärung zu Protokoll: „Die Maßnahmen sind zur dringend notwendigen Reform kaum geeignet und reichen nicht aus.“ (SZ 10.10.2020).
    Herr Schäuble im Interview mit Kerstin Münstermann und Gregor Mayntz: Warum haben Sie sich bei der Abstimmung enthalten? Das Ergebnis ist für mich nicht akzeptabel. Ich bin sehr enttäuscht. Das ist kein Ruhmesblatt für den Bundestag. Mein Gewissen spricht dagegen. Damit ist die Debatte für diese Wahlperiode beendet, in der nächsten wird man sehen, ob etwas Besseres dabei herauskommt (SZ 14.10.2020).
  • Eine Petition (06.04.2020) wurde am 28.01.2021 – 9 Monate nach Einreichung – vom Deutschen Bundestag abgeschlossen. Darin wurde der Bundestag aufgefordert, das BWG so zu ändern, dass in § 43 Nachwahl unter (1) eine Nachwahl auch dann stattfin­det, wenn keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt wird. Im Jahre 2017 haben von den 299 Direktmandaten nur 13 ihren eigenen Wahlkreis mit absoluter Mehrheit gewonnen. Den Negativ-Rekord landete die SPD mit 23,5 % bzw. 35.036 Stimmen im Wahlkreis Nr. 75. Bei einer Wahlbeteiligung von immerhin 73,2 % sind dies nur 16,9 % Stimmen von 206.706 Wahlberechtigten.
     
  • Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble fordert eine umgehende Änderung desWahlrechts. „Angesichts der Pandemielage werde ich den Fraktionen empfehlen, das Wahlrecht zu ändern, um den kleinen Parteien die Beteiligung an der Bundestagswahl zu erleichtern“ (SZ 06.03.2021) – mit der Folge einer weiteren Zersplitterung und damit weiteren Abnahme der relativen Mehrheit?
     
  • Folgen der Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg am 14.03.2021:
    Im Wahlkreis Germersheim hat der SPD-Kandidat einen Negativ-Rekord aufgestellt, d. h. er hat mit nur 16,4 % der Stimmen aller Wahlberechtigten gewonnen, dicht gefolgt von weiteren SPD-Gewinnern in Koblenz mit 17,3 % sowie in Ludwigshafen I und Speyer mit je 17,7 %.
    Im Stuttgarter Landtag muss der Plenarsaal infolge der vielen Ausgleichsmandate der Grünen von 143 auf 154 Sitze umgebaut werden (SZ 16.03.2021).

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,

woher kommt denn dieser Sinneswandel bei Ihnen: Im Oktober 2020 ist die Debatte für diese Wahlperiode für Sie beendet, im März 2021 fordern Sie eine umgehende Änderung des Wahlrechts?

Wie wäre es denn mit folgender – umgehender – Änderung?

Die 299 Direktkandidaten brauchen in ein bis zwei Wahlgängen nicht die relative, sondern die absolute Mehrheit in ihrer Region, dadurch wird der Bundestag ­– zusätzlich und endlich – auf Normalgröße gestutzt.

Soweit für heute, mit den besten Grüßen nach Berlin

R. Zander (79, parteilos)

|   Deutschland
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